Predigt des Bischofs von Augsburg Bertram Meier am Sonntag, den 22.10.2023,
in der Kollegskirche des Campo Santo Teutonico in Rom

Beim Gegensteuern die Mitte bewahren – Einübung in eine synodale Grundhaltung

Wenn ein Autoreifen platzt oder ein Wagen auf glatter Straße ins Schleudern gerät, dann gilt es entsprechend kräftig oder behutsam „gegenzusteuern”. Dieses Gegenlenken gibt es auch auf der Straße des Lebens. Ignatius von Loyola spricht gern vom agere contra, davon also, dagegen zu halten und zu handeln, eine bewusste Gegenbewegung zu setzen. Diese Gedanken kommen mir, wenn wir als Synodenversammlung in die Zielgerade gehen. Wir haben nicht nur harmonische Tage erlebt, sondern auch Stunden, die von Spannungen und Kontroversen zeugten, die das kirchliche Leben auf vielen Ebenen kennzeichnen und belasten. Eines habe ich gelernt: Die Geographie der Kirche wandelt sich, Europa relativiert sich. Transformation! Im Netz der Weltkirche ist die Kirche in Deutschland ein kleiner Knoten, der beachtet wird. Unsere Verantwortung liegt darin, uns einzubringen und in der Einheit zu bleiben. Was mir bei der Synode besonders hilft, sind die sog. „conferenze nello Spirito (Santo)”, die Gespräche im Heiligen Geist. Wir üben täglich, was es heißt, gut aufeinander zu hören und dabei vor allem den Heiligen Geist zu Wort kommen zu lassen. So wurde diese Synode für mich eine Hörschule der Weltkirche. Diese Hörschule ist ein Impuls zum Gegensteuern, wenn es uns das Maß verzieht. Wenn wir ausrasten, hilft uns das wohlwollende Hören beim Einrasten.

Ignatius von Loyola – ein Meister im Gegensteuern

Doch zurück zu Ignatius von Loyola! Das Gegensteuern wurde in seinem eigenen Leben erstmals sichtbar, als er - der ehemalige Höfling und „geistliche Aussteiger” - sein Äußeres nicht mehr pflegte: „Da er früher entsprechend der Gepflogenheit jener Zeit mehr auf die Pflege seines Haares bedacht war und er noch immer eine schöne Frisur hatte, beschloss er nun, es einfach wachsen zu lassen, wie es wolle, ohne es zu trimmen oder zu schneiden oder irgendwie während der Nacht oder bei Tag zu bedecken. Aus dem gleichen Grund ließ er auch die Zehen- und Fingernägel wachsen, da er ebenfalls dafür früher besondere Sorgfalt aufgewendet hatte.” (Pilgerbericht, 19)

Da Ignatius seine alten Lebensgewohnheiten ablegen wollte, hatte er sich selbst eine Zeit der „Entwöhnung” zugemutet. Er wechselte die Richtung seines Lebensweges. Dafür musste er umlenken, gegensteuern.

Dass man dabei auch „übersteuern” kann und Gefahr läuft, genau im gegenüberliegenden Straßengraben zu landen, bekam Ignatius am eigenen Leib zu spüren. Bestimmt hätten sich am liebsten einige mit Schere und Kamm über seinen Haarschopf hergemacht. Doch er wollte sich nicht „zurechtfrisieren” lassen. Ein „normaleres Aussehen” legte er sich erst zu, als er merkte, wieviel Freude es ihm bereitete, mit anderen Menschen geistliche Gespräche zu führen. Dabei wurde ihm schnell klar, dass er als „Gammler” bei vielen Menschen aneckte. So pendelte er auch sein Äußeres wieder zur Mitte hin ein, um als Gesprächspartner nicht abstoßend zu wirken, sondern möglichst allen alles werden zu können.

Gegensteuern mit Maß

Eine Krise ist immer auch eine Chance – persönlich und als Kirche. Sie bietet die Gelegenheit, die Kompassnadel des Lebens wieder dorthin auszurichten, worauf Gott sie eingestellt hat. Der eine oder andere Punkt kann wieder klarer hervortreten, den es zu richten und zu korrigieren gilt. Das trifft für den einzelnen ebenso zu wie für Gemeinschaften, auch für die Kirche. Wer in seinem Leben wirklich gegensteuern will, tut gut daran zu wissen, wo seine persönlichen Schlagseiten und Schwachpunkte liegen.

Diese Analyse ist von Mensch zu Mensch verschieden. Wer normalerweise zuviel redet oder zuviel trinkt oder zuviel arbeitet oder zu vorsichtig ist, dem hilft es gegenzusteuern, indem er (oder sie) im Zweifelsfall lieber ein Wort zu wenig sagt oder ein alkoholfreies Bier trinkt oder einen arbeitsfreien Tag nimmt oder auch mal bewusst ein offenes Wort riskiert. Es geht um eine geistliche Gegenbewegung. Der klassische Name ist Umkehr.

Es ist jedoch schon angeklungen, dass Gegensteuern auch zum Übersteuern führen kann. Das hohe ZieI des Gegensteuerns braucht ein Maß. Übertreiben wir nicht! „Liebe Mitbrüder, verfallen Sie nicht in Extremitäten!”, hat einmal der verstorbene Jesuitengeneral Pater Pedro Arrupe zu den Germanikern gesagt. Mit dieser Ermahnung hat Pater Arrupe ein Grundanliegen seines Ordensgründers Ignatius aufgegriffen.

Im Laufe seines geistlichen Wachsens und Reifens wurde Ignatius gegenüber Extremen immer skeptischer. Nach und nach wurde aus ihm ein Mann des „heiligen Maßes”. Es brauchte viele Jahre, bis dieser „Edelstein” zu einer Persönlichkeit der gesunden Mitte geschliffen war. Das ungestüme, leidenschaftliche Temperament hat es Ignatius dabei nicht immer leicht gemacht. Durch seine Übertreibungen hatte er sich selbst einmal bis an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Erst als er die Gefahr des „geistlichen Extremismus” in seinem Leben erkannte, wurde er reif, andere in rechter Weise zur Mäßigung zu ermahnen. 

Die Gefahr der Übertreibung

Auch das geistliche Leben kann in Extreme ausarten. Es ist eine Kunst, die Mitte zu halten zwischen geistlichem Hunger und spiritueller Ubersättigung, zwischen Lauheit und Übereifer, zwischen Interesselosigkeit und Fanatismus. Gerade wenn es um die Erneuerung der Kirche geht oder der Kurs zur Debatte steht, den die Kirche in Zukunft nehmen soll, ist das rechte Maß von großer Bedeutung. Christen, die Missstände zu Recht anprangern und dagegen ankämpfen, können dazu neigen, zu Fanatikern zu werden. Eine Handlung muss noch nicht gut sein, nur weil sie gut gemeint ist. Wir müssen uns vor falschen Einebnungen genauso hüten wie vor einem „Chauvinismus der Wahrheit”. Wahrheit und Liebe sind ein so enges Paar, dass es beide nur zusammen gibt. Für Christen muss es selbstverständlich sein, die Wahrheit nicht aufzuzwingen, sondern einander gleichsam in den Mantel der Wahrheit zu helfen.

Wenn im Inneren der Kirche Polarisierungen den Gesprächsfaden abzuschneiden drohen, sind Menschen der „goldenen Mitte” gefragt. Sie sind wirklich Gold wert, weil sie sich zwischen Extreme stellen, es dort aushalten und mit viel Geduld womöglich Brücken bauen. Es gibt kein Wort, das die menschlichen Grenzüberschreitungen besser anzeigt als das kleine Wort „zu”: zu viel, zu wenig, zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu weit, zu eng, zu heiß, zu kalt, zu süß, zu bitter, zu schnell, zu langsam, zu lang, zu kurz, zu freundlich. Alle Wendungen sind Ausdruck dafür, dass jemand das Maß nicht gefunden hat.

Die „radikale Mitte”

Sicher schlummert auch im Maß eine Gefahr. „Mäßig” oder „nur Mittelmaß” sind Worte, die in der Mitte nur die Durchschnittlichkeit sehen. Wer sich jedoch mit dem Durchschnitt zufriedengibt, dem sagt die Heilige Schrift auf den Kopf zu: „Wärst du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.” (Offb 3,15) Mitte unterscheidet sich von der Mittelmäßigkeit nur dann, wenn sie „radikale Mitte” ist, die Gegensätze einschließt und zum Wesentlichen entschlossen ist. Der „radikalen Mitte” ist die Spannung anzumerken, die das Leben erst lebenswert und interessant macht: Begeisterung, ohne fanatisch zu werden; Ausgeglichenheit, ohne desinteressiert zu sein; Milde, die nicht schwächlich ist; Kraft, die nicht verhärtet; Mut, der nicht tollkühn ist; Fraulichkeit, die Männlichkeit integriert; Männlichkeit, die Fraulichkeit nicht abwehrt. Die Kirchenväter sprechen auch von der „nüchternen Trunkenheit”, die der Heilige Geist schenkt: betrunken zu sein von der Begeisterung im Herzen und nüchtern zu handeln aus der Geduld der kleinen Schritte.

So gesellt sich noch die Gelassenheit hinzu - die Tugend aller, die sich um die „radikale Mitte” mühen. Vieles können wir im geistlichen Leben durch menschliche Kompetenz planen und verbessern. Noch mehr können wir austüfteln und in Konzepte fassen für einen Weg, der einzelnen, aber auch ganzen Gemeinschaften, Orden und Diözesen eine sinnvolle Zukunft erschließen soll. Das ist gut so - unter der Voraussetzung, dass wir klaren Kopf bewahren: Wir sind nicht die „Kirchenbastler”, die sich das Haus Gottes nach selbstgemachten Plänen zurechtzimmern. Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Gelassene Christen, Schwestern und Brüder der „radikalen Mitte”, tun, was sie können, und legen zugleich alles, was sie getan haben, in die Schale dessen, der es so umzuwandeln vermag, wie es seinem Willen entspricht.

Wenn wir unsere großen und kleinen Glaubens- und Kirchenpläne Gott anheimstellen, dann tun wir es mit heiterer Gelassenheit. Denn wir wissen: Der Mensch denkt. Und Gott? Er lenkt nicht nur, er lächelt auch über so manches, wo es uns das Maß verzieht, und fügt es schließlich so, wie es recht ist zu seiner Ehre und zu unserem Heil. Mit dieser Zuversicht gehen wir die Zukunft an. Die Kirche wandelt sich. Bewegen wir uns, lassen wir uns verwandeln, damit wir geistlich nicht verwesen. Denn Leben wartet auf uns!

26.10.2023 - Bistum Augsburg , Predigt , Vatikan